Kastration bei Hunden
Während bei Katzen die Kastration beider Geschlechter ein absolutes „Muß“ ist, sieht die Situation bei Hunden vollkommen anders aus.
Bedauerlicherweise kastrieren viele Tierärzte im Auftrag ihrer Kunden oder auch für Tierschutzvereine vollkommen ungehemmt Rüden und Hündinnen ohne daß wirklich eine Indikation vorliegt. Daß dies nicht nur ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz darstellt, sondern häufig auch mit erheblichen Leiden für das Tier verbunden ist, bleibt vollkommen unberücksichtigt.
Die Vermehrung von Hunden kann problemlos unterbunden werden, wenn Hündinnen, während sie läufig sind, von Rüden ferngehalten werden. Somit ist die Verhinderung einer Vermehrung KEINE INDIKATION. Ebensowenig lassen sich durch die Kastration die meisten Verhaltensprobleme wegoperieren und die Argumentation, daß man spätere Erkrankungen der Geschlechtsorgane oder auch Mammatumore verhindern kann, ist geradezu absurd.
Wer sich näher mit dem Thema auseinandersetzen möchte, findet wertvolle Informationen in einem Newsletter des Tierschutzvereins Leipzig. Dort findet sich auch ein empfehlenswerter Buchtipp.
Der Tierschutzverein Zwickau kastriert ausschließlich solche Hunde, bei denen eine medizinische Indikation vorliegt (Gebärmuttervereiterung, Hodenkrebs, Prostataprobleme, die sich medikamentös nicht regulieren lassen) oder bei denen eine Kastration von einem Sachverständigen empfohlen wird.
Weiterführend zum Thema hier zwei Blogs des Tierarztes Ralph Rückert (www.tierarzt-rueckert.de):
Die Kastration beim Hund – Ein Paradigmenwechsel
-Harninkontinenz (Harnträufeln), das um so wahrscheinlicher auftritt, je schwerer die Hündin wird.
-Fellveränderungen (Baby- oder Wollfell), sehr häufig auftretend bei langhaarigen Rassen.
-Fettleibigkeit, die vor allem dann entsteht, wenn die Fütterung nicht an den reduzierten Kalorienbedarf nach einer Kastration angepasst wird.
-Seit einigen Jahren weisen wir auch auf unsere persönliche Erfahrung hin, dass die unter Hunden weit verbreitete Schilddrüsen-Unterfunktion (Hypothyreose) so gut wie ausschließlich bei kastrierten Tieren festgestellt wird.
Das war’s aber auch schon. Was haben wir als Vorteile erwähnt?
-Keine Läufigkeit mehr (keine Blutung, keine ungewollte Fortpflanzung)
-Je nach Zeitpunkt der Kastration so gut wie vollständige Verhinderung von Mammatumoren (Brustkrebs)
-Definitive Vermeidung von Eierstock-Tumoren und der Gebärmutter-Vereiterung (Pyometra)
-Stabilisierung der Psyche durch Vermeidung starker hormoneller Schwankungen im Rahmen der Läufigkeit, allerdings mit der Einschränkung, dass bei manchen Hündinnen nach der Kastration ein gewisser Testosteron-Überhang entsteht, was die Hündin insgesamt männlich-grimmiger machen kann.
Auch das Für und Wider der im angloamerikanischen Kulturraum so weit verbreiteten Frühkastration (vor der ersten Läufigkeit) wurde besprochen. Ich bilde mir ein, dass ich nie einen Hündinnen-Besitzer zu etwas gedrängt habe. Mir war immer wichtig, dass der Verantwortliche in möglichst umfassender Kenntnis der aktuellen Faktenlage eine Entscheidung trifft und dann deren Vor- und Nachteile akzeptiert.
Beim Rüden war die Kastration immer eine Kann-aber-muss-nicht-Geschichte. Die krankheitsverhütenden Auswirkungen waren recht überschaubar, die Nebenwirkungen auch.
Nachteile:
-Auch beim Rüden tritt gelegentlich Harninkontinenz auf, aber viel seltener als bei der Hündin.
-Das gleiche gilt für Fellveränderungen.
-Das Problem des verringerten Kalorienbedarfs besteht völlig analog zur Hündin, also werden Rüden, die nach der Kastration die gleiche Futtermenge wie zuvor bekommen, ebenso fettleibig.
-Ebenfalls wie bei der Hündin stellen wir Schilddrüsenunterfunktionen eigentlich nur bei kastrierten Tieren fest.
Bezüglich der Vorteile lag die Hauptbetonung immer auf einer vom Besitzer erhofften Modifikation des typischen Rüdenverhaltens (Markieren, sexuell motivierte Aggression, Streunen, etc.). Von einer krankheitsverhütenden Wirkung ging man aus bezüglich:
-Hodentumoren (logisch!)
-Prostatatumoren
-Gutartiger Prostatavergrößerung
-Perianaltumoren
Auch in dieser Frage haben wir keinen Besitzer zu irgendetwas gedrängt, sondern eine eigene, auf Fakten beruhende Entscheidung gefördert. Allerdings sind wir seit der Markteinführung des Suprelorin-Implantates, das einen Rüden für eine bestimmte Zeit hormonell und reversibel – sozusagen auf Probe – kastriert, auch in Bezug auf diese Operation sehr zurückhaltend geworden.
Insgesamt kann man sagen, dass wir bei beiden Geschlechtern bis vor einiger Zeit der Ansicht waren, dass die Vorteile die Nachteile eher überwiegen. Wir haben diesen Standpunkt nicht nur vertreten, sondern durchaus selbst befolgt. Unsere Ridgeback-Hündin Nandi, die vor vier Jahren gestorben ist, war kastriert. Laurin, der jetzt zehn Jahre alte Rüde unserer Tochter, ist ebenfalls kastriert. Unser jetziger Hund, der vier Jahre alte Terrier-Rüde Nogger, ist es dagegen nicht. Was hat sich geändert? Ich muss dazu etwas weiter ausholen, bitte halten Sie durch!
Ich behaupte, dass die Tiermedizin als Wissenschaft sich zu lange auf sehr alten Studien zu dieser Thematik ausgeruht hat. Viele der Daten, mit denen wir argumentiert haben, stammen aus den Siebziger-Jahren des vorigen Jahrhunderts. In letzter Zeit aber setzt sich in der medizinischen Wissenschaft ein neues Denken durch, die sogenannte Evidenzbasiertheit, was (vereinfacht) bedeutet, dass sich möglichst jede medizinische Vorgehensweise auf tatsächlich beweisbare Fakten stützen sollte. Dementsprechend wird momentan alles in Frage gestellt, was immer schon als Tatsache galt, aber nie so richtig bewiesen wurde. So wuchs auch der Drang der Forscher, das alte Thema der Kastration erneut aufzugreifen. Wie weiter oben schon erwähnt: Zuerst waren es einzelne und stark in Zweifel gezogene Studien, die zur Veröffentlichung kamen und noch keinen echten Anlass für einen Kurswechsel darstellten. Inzwischen verdichtet sich die Datenlage aber derart, dass man sie nicht mehr ignorieren kann.
Was ist jetzt das Problem, fragen Sie? Das Hauptproblem, mit einem Wort ausgedrückt, ist Krebs! Mit der Kastration wird einerseits das Auftreten bestimmter Tumore verhindert, andererseits aber steigt das Risiko für andere Krebsarten, und zwar wahrscheinlich so deutlich, dass das gesamte bisherige Kastrationskonzept in Frage gestellt wird. Einer der wichtigsten Grundsätze der Medizin lautet: Nihil nocere! Niemals schaden! Für mich sieht es inzwischen fast so aus, als ob man einen Hund nicht mehr ohne strengste Indikationsstellung kastrieren könnte, ohne diesen Grundsatz zu verletzen.
Eine der umfassendsten und bezüglich der Fallzahlen beeindruckendsten Arbeiten zu dem Thema ist für mich „Evaluation of the risk and age of onset of cancer and behavioral disorders in gonadectomized Vizslas (Risiko und Erkrankungsbeginn von Krebs und Verhaltensstörungen bei kastrierten Vizslas)“. In dieser im Februar diesen Jahres im angesehenen Journal of the American Veterinary Medical Association veröffentlichten Studie greift die Kollegin Christine Zink auf die Daten von 2505 (!) ungarischen Vorstehhunden (Magyar Vizsla) zurück. Es macht im Rahmen eines Blog-Artikels wie diesem keinen Sinn, detailliert auf Kollegin Zinks Ergebnisse einzugehen, aber alles in allem muss man feststellen, dass kastrierte Tiere beiderlei Geschlechts ein teilweise um ein Mehrfaches erhöhtes Risiko aufwiesen, an bestimmten Krebsarten (Mastzelltumore, Hämangiosarkom, Lymphosarkom) zu erkranken, und das auch noch zu einem deutlich früheren Zeitpunkt als intakte Artgenossen. Auch bestimmte Verhaltensstörungen, vor allem die Angst vor Gewittern, kamen bei kastrierten Tieren deutlich häufiger vor. Andere Studien belegen, dass das Risiko für die Entwicklung eines Osteosarkoms (Knochenkrebs) für kastrierte Hunde um das drei- bis vierfache erhöht ist. Selbst die Datenlage zur Verhinderung von Gesäugetumoren durch die Kastration steht unter Beschuss. Und bösartige Prostatatumoren beim Rüden treten bei Kastraten nicht seltener, sondern häufiger auf!
Insgesamt wird die erhöhte Anfälligkeit für Tumorerkrankungen aktuell mit einer durch den Wegfall der Geschlechtshormone zusammenhängenden Beeinträchtigung des Immunsystems in Zusammenhang gebracht. Dafür spricht auch, dass bei kastrierten Hunden offenbar sogar eine höhere Infektanfälligkeit nachzuweisen ist.
Besonders bedrückend ist für mich, dass eine Kastration fast sicher das Auftreten von Hämangiosarkomen, den berüchtigten Milztumoren, fördert. Ich bin auf diese Erkrankung in einem früheren Blogartikel schon einmal eingegangen. Mit dieser extrem bösartigen und gefährlichen Tumorart haben wir es bei älteren Hunden andauernd zu tun. Unsere Nandi wurde aufgrund metastasierter Milztumore eingeschläfert. Die Vorstellung, dass wir diese fiese Krankheit durch Kastration auch noch gefördert haben sollen, finde ich einfach schrecklich. Meine amerikanische Kollegin und Krebsspezialistin Alice Villalobos findet dafür einen sehr passenden Ausdruck: Earth shattering!
Damit leider nicht genug: Auch verschiedene orthopädische Probleme werden inzwischen mit der Kastration in Verbindung gebracht. Bezüglich Kreuzbandrissen scheint es bereits unumstritten festzustehen, dass diese Verletzung bei kastrierten Tieren deutlich häufiger vorkommt. Es gibt aber auch Hinweise, dass sogar Hüftgelenkarthrosen bei Kastraten früher und schlimmer auftreten. Letzteres scheint aber noch nicht wirklich sicher. Ziemlich klar dagegen ist der Zusammenhang zwischen der Kastration und der häufigsten endokrinologischen Störung des älteren Hundes, der Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose).
Nachdem, wie schon erwähnt, momentan alles in Frage gestellt wird, was bisher galt, könnte man noch einige Punkte mehr aufführen, aber das bringt uns an dieser Stelle nicht weiter. Wenn wir den Grundsatz, niemals schaden zu wollen, ernst nehmen, ist es hier und jetzt Zeit für einen Kurswechsel. Wir können beim Hund nicht mehr guten Gewissens einfach so im Vorbeigehen kastrieren! Selbstverständlich wird es nach wie vor Hunde geben, die nach sorgfältigster Abwägung der individuellen Umstände trotzdem kastriert werden. Da mögen bestimmte Haltungsbedingungen (Hündin und Rüde im gleichen Haushalt) vorliegen oder gute medizinische Gründe (Perianaltumore oder eine Perinealhernie beim Rüden, chronische oder akute Gebärmuttererkrankungen bei der Hündin), die einfach keine andere Wahl lassen. Von solchen klaren Indikationen aber abgesehen werden wir in Zukunft mit Kastrationen in unserer Praxis noch zurückhaltender sein als wir es in den letzten Jahren sowieso schon waren.
Ach ja, ein letzter Punkt vielleicht noch: In letzter Zeit scheint es sich zu häufen, dass Hundetrainerinnen und Hundetrainer es sich zutrauen, speziell bei Rüden eine Kastrationsindikation zu stellen, um Erziehung und Handling zu erleichtern. Die Besitzer treten dann an uns heran mit der Bitte, den Hund zu kastrieren, weil es die Trainerin oder der Trainer so angeraten habe. Davon kann unter Berücksichtigung der erläuterten Faktenlage natürlich gar keine Rede sein! Eine sich eventuell etwas schwieriger als erwartet gestaltende Erziehung stellt zumindest in unserer Praxis keine ausreichende Begründung für diesen Eingriff dar.
Ich könnte mir gut vorstellen, dass Besitzer von Hunden, die irgendwann in unserer Praxis kastriert wurden, jetzt darüber unglücklich oder gar auf uns sauer sind. Das ist einerseits auf der emotionalen Ebene ein Stück weit nachvollziehbar, andererseits kann ich den Vorwurf nur an die in der Forschung arbeitenden Stellen weitergeben. Ich bin als Praktiker von der Forschung und ihren Erkenntnissen abhängig und beileibe nicht glücklich, dass man sich bezüglich dieses Themas gute dreißig Jahre auf alten Lorbeeren ausgeruht hat. Davon abgesehen: Bitte keine Panik, dazu gibt es absolut keinen Anlass. Wenn wir beispielsweise bei einer bestimmten Tumorart von einer Verdreifachung des Risikos sprechen, klingt das im ersten Moment wirklich übel. Wenn man sich aber klar macht, dass diese Tumorart an sich nur eine Wahrscheinlichkeit von 1,5 Prozent hat, dann bedeuten die aus einer Verdreifachung des Risikos resultierenden 4,5 Prozent immer noch, dass ein ganz bestimmter Hund diesen Tumor zu 95,5 Prozent NICHT bekommen wird.
Viele, nicht zuletzt Kolleginnen und Kollegen, werden einwenden, dass ein solcher Kurswechsel langfristig auch wieder bestimmte Konsequenzen haben wird. Stimmt! Wir werden bei intakten Hündinnen eventuell wieder öfter Gesäugetumoren und ganz sicher wieder mehr Gebärmutter-Vereiterungen (Pyometren) sehen. Aber auch das ist eben eine Sache der Risikoabwägung. Ein gut aufgeklärter Besitzer wird sowohl ein Gebärmutter-Problem als auch einen Gesäugetumor frühzeitig erkennen und entsprechend beim Tierarzt vorstellen. Die Chancen einer frühen und erfolgreichen chirurgischen Intervention sind dann ganz entschieden besser als bei einem Hämangiosarkom der Milz oder gar einem Lympho- oder Osteosarkom.
Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich mit dieser für meine Praxis geltenden Positionsfestlegung in das sprichwörtliche Wespennest steche, und zwar gleichermaßen bei Hundebesitzern und bei Tierärzten. Sicherlich wird es viele Praxen geben, die bereits einen vergleichbaren Standpunkt eingenommen haben, dies aber nicht per Blog-Artikel öffentlich machen. Andere Kolleginnen und Kollegen werden meine Einlassungen als viel zu vorschnell verurteilen und nach immer noch beweiskräftigeren Studien rufen. Mir geht es um zwei Punkte: In erster Linie möchte ich mit diesem Artikel meine Kunden darüber informieren, dass sich etwas Grundlegendes geändert hat. Darüber hinaus würde ich ungern erleben, dass wir, wie damals bei der Verlängerung der Impfintervalle, eine neue Entwicklung komplett verpennen, um dann 5 bis 10 Jahre hinter den Amerikanern her zu hinken.
Sobald sich der Staub etwas gelegt hat (was noch einige Zeit dauern kann), werden wir für unsere Kunden ein Aufklärungsformular verfassen, in dem alle bis zu diesem Zeitpunkt als gesichert geltenden Fakten aufgeführt sind.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen
Sie können jederzeit und ohne meine Erlaubnis auf diesen Artikel verlinken oder ihn auf Facebook bzw. GooglePlus teilen. Jegliche Vervielfältigung oder Nachveröffentlichung, ob in elektronischer Form oder im Druck, kann nur mit meinem schriftlich eingeholten und erteilten Einverständnis erfolgen. Von mir genehmigte Nachveröffentlichungen müssen den jeweiligen Artikel völlig unverändert lassen, also ohne Weglassungen, Hinzufügungen oder Hervorhebungen. Eine Umwandlung in andere Dateiformate wie PDF ist nicht gestattet. In Printmedien sind dem Artikel die vollständigen Quellenangaben inkl. meiner Praxis-Homepage beizufügen, bei Online-Nachveröffentlichung ist zusätzlich ein anklickbarer Link auf meine Praxis-Homepage oder den Original-Artikel im Blog nötig.
Kastration beim Hund (Teil 2) – Fragen und Antworten
24.10.2014
Von Ralph Rückert, Tierarzt
Mein vor einer Woche veröffentlichter Artikel „Kastration beim Hund – Ein Paradigmenwechsel“ hat sich im Netz unerwartet weit verbreitet und überwältigende Zustimmung erfahren, und zwar nicht nur von Seiten der Hundehalter, sondern auch aus Teilen der Kollegenschaft. Trotzdem hat er auch – wenig überraschend – einige Fragen aufgeworfen und Verunsicherungen ausgelöst, auf die ich in diesem Folgebeitrag näher eingehen möchte.
-Warum sind Sie so wenig auf die Folgen der Kastration in Bezug auf das Verhalten eingegangen?
Auch in diesem Bereich der Forschung liegen schwerwiegende Bedenken gegen die Kastration vor. Ich bin darauf nicht näher eingegangen, weil zum einen die wissenschaftliche Erfassung kastrationsbedingter Verhaltensprobleme sehr schwierig ist, und zum anderen Kollegin Sophie Strodtbeck und ihr Mitautor Udo Gansloßer mit „Kastration und Verhalten beim Hund“ ein sehr gutes Buch zu diesem Thema geschrieben haben, das wir schon seit gut zwei Jahren jedem Besitzer, der eine Kastration seines Hundes in Betracht zieht, dringend ans Herz legen.
-Was ist eigentlich mit der Sterilisation?
Die Sterilisation speziell des Rüden stellt eine klare Alternative zur Kastration dar, und zwar ganz besonders in den Fällen, wo die ungewollte Bedeckung einer Hündin befürchtet wird, beispielsweise wenn Rüde und Hündin gemeinsam gehalten werden. Bei der Sterilisation wird – wie beim Mann – durch einen kleinen Schnitt der Samenleiter durchtrennt und abgebunden. Damit wird Zeugungsunfähigkeit erzielt, ohne ansonsten irgend etwas am Hormonstatus des Rüden zu verändern. Die Operation ist chirurgisch gesehen kein Zauberwerk und mit nur geringen Risiken behaftet. Unter bestimmten Umständen auf jeden Fall eine Überlegung wert!
-Lehnen Sie jetzt Kastrationen pauschal ab?
Nein! Es ist letztendlich ein chirurgischer Eingriff wie jeder andere auch. Bei entsprechender Indikation (Hodenkrebs, Eierstock-Krebs, etc.) werden auch Menschen kastriert. Daran ist absolut nichts falsch. Es müssen aber deutlich gewichtigere Gründe zusammen kommen als noch vor einiger Zeit. Es sollte eine klare medizinische Indikation für den Eingriff vorliegen. Gerade das immer angeführte Prophylaxe-Argument ist nach Lage der Dinge nicht mehr ausreichend. Liegt eine medizinische Indikation vor, fällt die Entscheidung zur Kastration. Unter den genannten Voraussetzungen ist es aber logisch, dass wir in Zukunft deutlich weniger Kastrationen durchführen werden.
-Muss ich mir als Besitzer/in eines kastrierten Hundes jetzt Sorgen machen?
Nein, Sie müssen und Sie sollten sich keine Sorgen machen! Statistiken aus epidemiologischen Groß-Studien sind wichtig und unverzichtbar, man muss sich die wirklichen Größenordnungen aber immer wieder auch mit gesundem Menschenverstand vor Augen halten. Wie ich in meinem Artikel schon geschrieben habe: Wenn eine bestimmte Tumorart normalerweise eine Vorkommenswahrscheinlichkeit von 1,5 Prozent hat, dann bedeutet eine Verdreifachung, dass das Risiko auf 4,5 Prozent steigt. Aus der Sicht des Epidemiologen ist das schon eine ordentliche Hausnummer. In den Augen eines Optimisten heißt das aber auch, dass ein bestimmter Hund diesen bestimmten Tumor zu 95,5 Prozent in seinem Leben nicht bekommen wird.
Dazu kommt die Tatsache, dass epidemiologische Massenstudien nur mit relativ großem Aufwand betrieben werden können und dementsprechend nicht jede Woche eine neue veröffentlicht wird. Bisher beschränken sich die Studien, die mich zu meiner Positionsänderung bewegt haben, auf bestimmte Hunderassen wie den Magyar Vizsla und den Golden Retriever. Wir wissen schon lange, dass bestimmte Hunderassen eine Neigung (Prädisposition) für die eine oder andere Tumorart haben können. So gesehen müssen die genannten Risikoverschiebungen für die anderen Hunderassen nicht unbedingt in der gleichen Größenordnung zutreffen. Die ursprüngliche Frage wurde beispielsweise von der Besitzerin eines Cairn Terriers gestellt. Cairn Terrier haben insgesamt nur sehr wenig rassespezifische Krankheitsdispositionen und fallen nicht durch das vermehrte Auftreten bestimmter Tumortypen auf. Also kann man davon ausgehen (ohne jeden Beweis natürlich!), dass die in den Studien bei Vizslas und Goldies ermittelten Risiken einen Cairn-Terrier in eher geringerem Ausmaß betreffen.
-Wenn die Risiken rechnerisch so klein sind, warum dann der ganze Aufruhr und die Änderung des Standpunktes zur Kastration?
Die individuelle Entscheidung pro oder contra Kastration muss man sich als Waage vorstellen. In die betreffenden Waagschalen werden die auf einen individuellen Hund zutreffenden Vor- und Nachteile des Eingriffs gelegt und am Ende neigt sich die Waage in die eine oder andere Richtung. Das war in guten Tierarztpraxen immer schon so. Wo wir aber noch vor kurzem den Entscheidungsprozess mit zwei leeren Waagschalen begonnen haben, müssen wir aufgrund der neuen Erkenntnisse jetzt von vornherein ein nicht unbeträchtliches Gewicht in die Contra-Waagschale legen. Wo ich noch vor einem Jahr einer Kastration zugestimmt hätte, würde ich heute also eventuell ablehnen. Nihil nocere! Niemals schaden! Man denke an die in der humanmedizinischen Forschung berühmt-berüchtigte CARET-Studie, bei der über 80000 Menschen mit hohem Lungenkrebs-Risiko (durch Rauchen und Asbest-Exposition) in zwei Gruppen geteilt wurden und die eine Hälfte Carotin und Vitamin A (also Antioxidantien) erhielt, weil sich aus früheren Studien ergeben hatte, dass diese Substanzen eventuell die Krebsrate senken könnten. Recht schnell, lange vor dem Ende der auf jahrelange Beobachtung angelegten Studie, stellte sich heraus, dass die Probanden, die die Antioxidantien einnahmen, erschreckenderweise ein um 46 Prozent erhöhtes Risiko hatten, an Lungenkrebs zu sterben. Diese ganz und gar unerwartete Erkenntnis führte zum sofortigen Studienabbruch aus ethischen Gründen. Im Prinzip (und stark vereinfacht gesehen) ist die seit Jahrzehnten weltweit geübte Kastrationspraxis ein ganz ähnlicher Studienaufbau: Die eine Gruppe Hunde wird einfach in Ruhe gelassen, bei der anderen wird etwas unternommen, eine sogenannte Intervention. Bei der CARET-Studie bestand die Intervention aus der Gabe der Antioxidantien, in unserem Fall aus der Kastration. Nun zeigen die aktuell vorliegenden Studien für einige sehr bösartige und gefährliche Tumorarten ein nicht etwa um knapp 50 Prozent erhöhtes Risiko, nein, wir reden hier von teilweise mehreren hundert Prozent Riskosteigerung für kastrierte Tiere. Auch nur der leiseste Verdacht einer solchen Entwicklung würde in jeder humanmedizinischen Studie zur panikartigen Beendigung führen. Darüber müssen wir uns Gedanken machen! Wir waren, genau so wie die Durchführenden der CARET-Studie, guten Glaubens, mit unserer Intervention etwas gesundheitlich Sinnvolles für unsere Patienten zu tun. Nun mehren sich die Hinweise und Verdachtsmomente, dass wir damit leider auf dem Holzweg waren. Auch wenn mir – wie schon erwartet – aus verschiedenen Richtungen vorgeworfen wird, vorschnelle Schlussfolgerungen zu ziehen: Mir reicht allein der schwerwiegende Verdacht einer Schädlichkeit des bisherigen Vorgehens aus, um erst mal, wann immer möglich, nicht zu kastrieren.
-Warum haben Sie Ihren Standpunkt zur Kastration geändert, viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen aber nicht?
Man darf sich die Medizin egal welcher Fachrichtung nicht als im Gleichschritt marschierende Armee vorstellen. Eine Vorgehensweise, die über Jahrzehnte als gut und richtig galt, brennt sich in die Köpfe ein und ist da nicht mehr so leicht rauszubekommen. Nehmen Sie das Mammographie-Screening in der Humanmedizin als Beispiel: Wie viele der weiblichen Leser gehen da hin, in der festen Überzeugung, eine sinnvolle Vorsorge-Untersuchung wahrzunehmen? Aller Wahrscheinlichkeit nach ist dieser Gedanke aber leider falsch, denn nach den vorliegenden Daten schadet das Mammographie-Screening mehr als es nützt. Viele der Mediziner, die mit dem Screening zu tun haben, vor allem Gynäkologen und Radiologen, wehren sich im Moment noch mit Händen und Füßen gegen die ziemlich handfesten Ergebnisse der Medizin-Statistiker. Das Screening wird noch eine ganze Weile weiterlaufen und von vielen Ärzten als gute Sache bezeichnet werden. Genau so müssen Sie das mit der Kastration sehen. Ein Paradigmenwechsel zieht sich!
Sollten sich weitere Fragestellungen ergeben, werde ich den Artikel eventuell noch erweitern. Haben Sie bei Interesse also bitte ein Auge drauf und bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen
Sie können jederzeit und ohne meine Erlaubnis auf diesen Artikel verlinken oder ihn auf Facebook bzw. GooglePlus teilen. Jegliche Vervielfältigung oder Nachveröffentlichung, ob in elektronischer Form oder im Druck, kann nur mit meinem schriftlich eingeholten und erteilten Einverständnis erfolgen. Von mir genehmigte Nachveröffentlichungen müssen den jeweiligen Artikel völlig unverändert lassen, also ohne Weglassungen, Hinzufügungen oder Hervorhebungen. Eine Umwandlung in andere Dateiformate wie PDF ist nicht gestattet. In Printmedien sind dem Artikel die vollständigen Quellenangaben inkl. meiner Praxis-Homepage beizufügen, bei Online-Nachveröffentlichung ist zusätzlich ein anklickbarer Link auf meine Praxis-Homepage oder den Original-Artikel im Blog nötig.